Entwurf und Realisierung: Studierende der TU Wien, Fachbereich Architekturtheorie unter Leitung von Kristina Schinegger und Stefan Rutzinger (soma architecture) und Christoph Müller
Standort: 21er Haus, Wien
Das klassische Architekturverständnis beruht auf der Unterscheidung von Inhalt und seiner materiellen Erscheinung. Form folgt der Idee bzw. dem architektonischen Konzept; das Material wird dabei als rezeptive Entität begriffen, welches unter Berücksichtigung seiner Beschaffenheit in Form gebracht wird, um die übergeordnete Idee so gut wie möglich zu realisieren. Diese Vorstellung wurde – zumindest innerhalb des Diskurses über digitale Architektur – am Ende des 20.Jahrhunderts umgekehrt. Materialisierung wird heute nicht mehr als eine der Formgebung nachgeordnete Überlegung verstanden, sondern als aktiver Entwurfsgenerator. Computergestützte Werkzeuge und erhöhte Rechnerleistung ermöglichen einen Bottom-up Ansatz: Materialeigenschaften können simuliert und im virtuellen Rahmen getestet werden, um daraus emergente Formen und Räume entstehen zu lassen. Simulationstools erlauben die Handhabung vieler einzelner Teile, die veränderlichen inneren und externen Einflüssen folgen und sich zu größeren Einheiten aggregieren können.
Im Zuge des einjährigen Pavillonprojektes an der TU Wien unter der Leitung von Kristina Schinegger und Stefan Rutzinger von soma architecture mit Christoph Müller wurde sowohl die Vorstellung des formlosen Materials als auch die lineare Abfolge von Entwurf und Materialisierung in Frage gestellt. Der traditionelle Formfindungsprozess, gelenkt durch die Hand und den Willen eines Autors, wurde dabei durch ein systematisches Feedback zwischen analogen und digitalen Methoden ersetzt.
Batailles Begriff des L‘Informe diente dazu, den praktischen und theoretischen Rahmen des Projektes zu definieren. Das Formlose bezeichnet das „Niedrige“, das an und für sich keine Rechte besitzt und wie Schmutz, Staub oder Spucke „überall hin geworfen“ werden kann. In der Interpretation von Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss ist es von Instabilität geprägt und neigt zur Transformation. Diese unkalkulierbare Reserve (operational force), die dem Formlosen innewohnt, verhindert gleichzeitig die geometrische Definition und Reduktion zur Gestalt. Damit entzieht es sich auch jeglicher Festlegung im Sinne einer Kategorisierung oder Zuschreibung von Bedeutung; es bleibt potenziell offen und unbestimmt.
Der gegenwärtige Diskurs über Materialsysteme ist von Idealisierung und Zweckgerichtetheit geprägt. Batailles Begriff des Formlosen und die damit verbundene Vorstellung einer generellen Ökonomie, welche unproduktive Aspekte wie Abfall und Verschwendung inkludiert, kann so einen kritischen Beitrag dazu liefern.
Der Entwerfenkurs widmete sich der Analyse von Materialsystemen mit dem Ziel Bottom-up Prinzipien abzuleiten, diese in den architektonischen Maßstab zu transferieren und ihr Gestaltungs- und Raumbildungspotenzial auszuloten. Die untersuchten Systeme sind in ihrer Varianz und Irregularität durch einfache Regeln oder Formeln nicht mehr beschreibbar, können aber mittels Steuerung innerer und äußerer Faktoren beeinflusst und dadurch in ihrer räumlichen Ausprägung manipuliert werden. Räume und Strukturen werden innerhalb einer angestrebten Bandbreite evoziert und angeregt, jedoch nicht parametrisch determiniert. Der Entwurfsprozess entfernt sich daher sowohl von der klassischen Formgebung als auch Formgenerierung. Er folgt einer Strategie, die auf Wahrscheinlichkeit und Annäherung beruht und damit Unschärfe intendiert und inkludiert.
Die daraus resultierenden grundlegenden Fragestellungen wurden im Zuge der Lehrveranstaltung diskutiert: Wie kann das Formlose, das sich per Definition jeglicher Kategorisierung entzieht, realisiert werden? Welche analogen und digitalen Methoden ermöglichen eine präzise Darstellung des Unbestimmten? Bis zu welchem Grad kann man die Unschärfe des Entwurfsprozesses in die Fabrikation übertragen?
Im ersten Schritt wurden physische Experimente durchgeführt, um das Verhalten von Materialsystemen verstehen zu lernen und ihre ästhetischen und räumlichen Potenziale freizulegen. Anschließend wurden charakteristische Eigenschaften dieser Versuche in räumliche Formationen übersetzt und mittels digitaler Simulationstools innerhalb des architektonischen Kontextes des Tiefhofs räumlich interpretiert.
Das zur Weiterbearbeitung im zweiten Semester und damit zur Realisierung im 21er Haus ausgewählte Konzept von Zsofia Varga und Lukas Stampfer beruhte auf einer Analyse der selbstverzahnenden Eigenschaften von Filz. Im Gegensatz zum Gewebe, das auf einer Hierarchie von Kette und Schuss und deren orthogonalen Anordnung beruht, ist Filz multi-direktional, unhierarchisch, irregulär, offen und erweiterbar. Das Projekt katalogisiert die Eigenschaften und Prinzipien von verfilzten Fasern und entwickelt daraus eine Strategie, Räume und Strukturen verbindungsmittelfrei zu erzeugen.
Das Konzept wurde von März bis Mai 2014 von den Studenten des Entwerfenkurses als Team weiterentwickelt und umgesetzt. Die tragfähige Formation, die schließlich im Tiefhof des 21er Hauses realisiert wurde, besteht aus 2.200 selbstähnlichen, ineinander geschraubten Spiralfedern aus Aluminiumrohren. Die Ganghöhe der einzelnen Elemente erhöht sich von den Enden zur Mitte der Spiralen hin; somit entsteht beim Hineindrehen der Elemente eine Vorspannung innerhalb des Verbundes. Die Herausforderung bildet dabei nicht nur die Übersetzung der im Computer durch Schwarmverhalten generierten Aggregationen in eine physische Anordnung, sondern auch die Simulation der konstruktiven Prinzipien des Aufbaus und des mechanischen Verbunds zwischen den Elementen im digitalen Modell zur Analyse des Tragverhaltens. Eine Kraftübertragung innerhalb der Struktur wird über Kontakt vieler einzelner Elemente gewährleistet. Die Vorspannung der Struktur erhält den Elementkontakt bei äußerer Lasteinwirkung bis zu einem gewissen Grad. Abhängig vom äußeren Krafteinfluss kann es zum Ausfall von Kontaktpunkten kommen, was eine nichtlineare, iterative Berechnung der Systemantwort erfordert. Der Elementkontakt ist außerdem abhängig vom Ablauf der Montage, bzw. welches Element sich um jeweils andere windet und kann nicht durch einen einzelnen Zustand nachgebildet werden. Eine iterative Modellbildung, welche die Änderung der inneren Spannungszustände berücksichtigt, ist hier erforderlich. Die Analyse der Tragstruktur konnte mit Hilfe der parametrischen Entwurfsumgebung Grasshopper sowie dem darin eingebetteten FE-Programm Karamba realisiert werden.
Aufgrund der geometrischen Komplexität und großen Anzahl der Elemente eröffnet der Pavillon ein sehr komplexes Forschungsfeld hinsichtlich Modellbildung und Berechnungsmethoden.
Als Material für den Pavillon wurde Aluminium verwendet. Der Baustoff erweist sich nicht nur aufgrund seiner einfachen Verarbeitbarkeit sowie Leichtigkeit für Transport und Aufbau von Vorteil; die Profile können aufgrund Ihrer Unbehandeltheit später wieder recycelt werden.
Der Pavillon artikuliert sich im modernistischen Kontext Karl Schwanzer’s 21er Hauses als formlose, weil nicht eindeutig fassbare Struktur. In seiner räumlichen und interpretativen Offenheit soll er den Besucher anregen, selber Bedeutungen und Assoziationen zu finden. Mehrdeutigkeit und Unschärfe sind somit Konstanten, die sich durch das Projekt ziehen, von seiner Konzeption bis zum architektonischen Raumerlebnis.
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